«Selbstverantwortlich wäre ein Verzicht auf gefährliche Pestizide»

Das Pestizid Chlorothalonil hat das Schweizer Trinkwasser auf Jahre hinaus grossflächig verunreinigt. Und das Grundwasser weist eine zu hohe Nitratbelastung auf. Die Politik sollte handeln, fordert Kurt Seiler, Kantonschemiker von Schaffhausen, Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden im Interview.
Trinkwasser gilt es besser gegen negative Einflüsse zu schützen.
Trinkwasser gilt es besser gegen negative Einflüsse zu schützen. Bild: Pixabay
Oktober 27, 2020

Fausta Borsani

Herr Seiler, gibt es Chemikalien die wir nicht mehr los werden?

«The dirty dozen» – das dreckige Dutzend – so hiessen im Fach-Jargon die ersten Stoffe, deren Verwendung in einer völkerrechtlichen Übereinkunft im Kampf gegen organische Schadstoffe 2001 verboten wurden. Doch viele von ihnen sind immer noch im Boden oder im Grundwasser messbar – selbst ­bald 20 Jahre nach dem Verbot. Bei den zwölf Wirkstoffen handelte es sich um chlorierte organische Stoffe – wie beim mittlerweile geläufigen Pestizid «Chlorothalonil» und seinen zahl­reichen Abbauprodukten. Eines davon, das «R471 811», hat es hierzulande zu unrühmlicher Bekanntheit gebracht, denn es überschreitet den Höchstwert für Trinkwasser in landwirtschaftlich intensiv ­genutzten Regionen des Schweizer Mittellandes oft und mehrfach.

Aber warum konnte das passieren, das Pestizid war doch ordentlich bewilligt?

Die Überschreitungen sind das Resultat eines über 40 Jahre dauernden Einsatzes von vielen 10 000 Kilogramm Chlorothalonil pro Jahr. Über diese Zeit hinweg reicherten sich die Abbauprodukte im Boden an und sickern nun sukzessive ins Grundwasser. Seit Anfang 2020 ist Chlorothalonil in der Schweiz und in der EU verboten. Ein wichtiger Schritt. Aber gestützt auf den Werdegang des dreckigen Dutzend befürchte ich, dass wir R471 811 und andere so schnell nicht mehr loswerden.

Warum dauerte es mehr als 40 Jahre, bis die Verunreinigungen entdeckt wurden?

Gute Frage, umso mehr, weil der Höchstwert im Trinkwasser bereits seit über 20 Jahren besteht! Sie wurden nicht gefunden, weil man sie nicht suchen konnte! Die Bundesbehörden haben die Zulassungsdossiers mit den nötigen Angaben wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Nicht einmal die kantonalen Trinkwasser-Kontrollbehörden bekamen sie zu sehen. Erst der technische Fortschritt der Analysemethoden machte es möglich, die Abbauprodukte von Chlorothalonil zu finden. Die verbesserten Methoden brachten den Durchbruch und die traurige Erkenntnis, dass unser Trinkwasser breit verunreinigt ist.

Also muss man die Black-Box Zulassungsverfahren reformieren?

Ja, denn mit dem Zulassungsprozess von Pestiziden stellt der Bund die Weichen für deren Einsatz. Es ist darum von zentraler Bedeutung. Hier besteht starker Reformbedarf, wie übrigens auch die Wirtschaftsprüfer von KPMG vor kurzem bestätigt haben.

Ist die Agrarindustrie tatsächlich auf ein fragwürdiges Pestizid angewiesen, das vor über vierzig Jahren zugelassen wurde?

Seit den siebziger Jahren ist klar, dass die Ausbringung von schwer abbaubaren Che­mikalien in der Umwelt nicht nachhaltig ist. Dennoch will der Agrarkonzern Syngenta wider besseres Wissen weiter am Stoff Chlorothalonil festhalten und setzt sich darum vor dem schweizerischen Bundesverwaltungsgericht gegen das Verbot zur Wehr. Ein Verzicht von Syngenta wäre aber ein Zeichen der Selbstverantwortung.

Und die Wasserversorger, was können sie machen, um uns gutes Wasser zu garantieren?

Viele Wasserversorger im Mittelland sitzen heute in der Klemme. Glücklich können sich jene Gemeinden schätzen, die auf unbelastete Vor­kommen ausweichen können, etwa auf Wasser aus Waldgebieten. Selbstverständlich könnte man ein sauberes Trinkwasser auch technisch, mit ausgeklügelten Aufbereitungsverfahren, herstellen. Solche Methoden sind aber meist teuer und energieintensiv. Solche «End-of-pipe-Lösungen», wie die Fachleute sie nennen, sollten nur wenn nicht anders möglich genutzt werden. Vielleicht müssen die Wasserversorger künftig ihren Rohstoff über lange und teure Zuleitungen aus den nicht belasteten Gebieten ins Schweizer Mittel­land heranführen.

Was sollte die Schweiz machen für besseres Trinkwasser?

Der wichtigste Rohstoff für das Schweizer Trinkwasser ist das Grundwasser. Dieses gilt es besser vor negativen Einflüssen zu schützen. Die üblichen Grundwasserschutzzonen von wenigen Hektaren Umfang reichen dafür nicht aus, und der Schutz darf sich auch nicht nur auf die Pestizide beschränken. So müssen die Behörden auch die viel zu hohen Stickstoffbelastungen aus der Landwirtschaft berücksichtigen.

Meinen Sie Nitrat im Grundwasser?

Ja, wir haben Nitrat im Grundwasser und in der Folge dann im Trinkwasser, wo es die Qualität beeinträchtigt und auch seine gesundheitlichen Auswirkungen nicht unumstritten sind. Stickstoffe sorgen zwar für weniger Furore in der Öffentlichkeit als die Pestizide, sie sind aber nicht weniger bedeutsam. Die unvorstellbar grossen Stickstoffüberschüsse in der Schweiz liegen zurzeit bei rund 100 000 Tonnen pro Jahr. Sie müssten dringend reduziert werden, aber seit rund zwanzig Jahren gibt es keine Fortschritte. An Zielvorgaben hat es nicht gefehlt, aber niemand wollte sie umsetzen.

Und nun?

Diverse Gewässerschutzprogramme, an die der Bund mitfinanziert, zeigen, dass Landwirtschaft und sauberes Trinkwasser durchaus kompatibel sind. Es liegt nun an der Politik, gestützt auf diese Erkenntnisse, verbindliche, gesetzliche Grundlagen zu schaffen – und diese auch durchzusetzen.

Kurt Seiler, 57, ist Kantonschemiker von Schaffhausen, Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden. Seiler studierte an der ETH Chemie, promovierte in analytischer Chemie und absolvierte Zusatzausbil­dungen in Lebensmittelchemie und ­Unternehmensführung.

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