Pestizidzulassung - ein Albtraum

Vom Anmeldeverfahren bis zum Verbot schädlicher Pestizide: Tausende Seiten Gesetze, Verordnungen und Richtlinien – die Behörden sind davon völlig überfordert. Und begünstigen so die Industrie, statt Menschen und Natur zu schützen.
Amphibien reagieren sehr empfindlich auf Insektizide und Fungizide. Bild: Pixabay
Juni 1, 2021

Fausta Borsani

Die Daten zur Giftigkeit für Menschen, Tiere und Pflanzen können die Pestizidhersteller selbst erheben und auswerten. Sie allein entscheiden, welche Informationen die Zulassungsbehörden bekommen. Die Öffentlichkeit und selbst die Umweltbehörden der Kantone, z.B. die Gewässerschutzfachstellen, sehen nicht einmal die Informationen, welche die Zulassungsbehörden erhalten: Geschäftgeheimnis.

Die Macht der Auswertung

Wer Daten erhebt, auswertet und über sie verfügt, hat grosse Macht. Es muss keine offenkundige Datenfälschung sein, um eine Situation anders darzustellen, als sie tatsächlich ist. Denn bei komplizierten Zusammenhängen gibt es Ermessensfragen. So können bei der Erkrankung von sechs Fischen in einem Pestizidversuch möglicherweise drei auf andere Ursachen zurückgeführt werden. Und schon verbessert sich das Ergebnis. Die Zulassungsbehörden in der EU oder die schweizerische Bundesverwaltung können solche Daten nicht mit eigenen Versuchen überprüfen, weil dazu viel mehr Manpower nötig wäre, als ihnen die Politik zugesteht.

Nicht wissen wollen…

Aber viele problematische Aspekte werden gar nicht erst geprüft. Zum Beispiel die Giftigkeit von Pestiziden für Amphibien, obwohl diese zu den am stärksten gefährdeten Arten gehören. Amphibien reagieren sehr empfindlich auf Insektizide und Fungizide. Durch die Gifte können sie sich nicht mehr so gut fortpflanzen und die Bestände sinken immer mehr. In der Schweiz sind bereits 80 % der Amphibienarten gefährdet, vom Ausserben bedroht oder bereits verschwunden. Zudem: Alle Giftigkeitsprüfungen betreffend Wasserlebewesen werden nur in einem künstlichen Becken im Labor und nur mit wenigen Arten (z.B. Wasserflöhe und Fische) durchgeführt.  Von den Ergebnissen wird dann auf alle Tiere in Gewässern geschlossen, obwohl verschiedene Arten unterschiedlich empfindlich für Umweltgifte sind. Und die Prüfer beachtet nicht, dass viele Pestizide mehrere Wirkstoffe enthalten. Deren Giftwirkung kann sich nicht nur addieren, sondern potenzieren. Trotzdem wird dies kaum je geprüft.

Töten und hoffen…

Bei vielen Wirkstoffen ist zwar aufgrund der Daten klar, dass sie sehr schädlich für Wasserorganismen, Bodenorganismen oder Insekten sind. Und auch, dass sie nach den geltenden Vorschriften eigentlich nicht mehr (weiter) zugelassen werden dürften. Doch die Behörden lösen das Problem nonchalant: Zwar geben sie zu, dass massiv Wasserorganismen und Insekten getötet werden, hoffen aber einfach, die betreffenden Populationen würden sich mit der Zeit schon wieder erholen. Dies ist ein grosser Trugschluss und stimmt nicht! Erholen würden sich die Populationen von Insekten und Wasserlebewesen nur, wenn sie aus unbelasteten Gewässern oder Gebieten wieder einwandern könnten. Leider gibt es solche Gewässer und Gebiete schon lange nicht mehr, denn Pestizide sind überall: man findet sie in den abgelegensten Tälern und sogar in Naturschutzgebieten.

Oder endlos prozessieren

Die Macht der Konzerne ist so gross, dass sie es sich leisten können, gegen Verbote endlos und aufwändig zu prozessieren. Eben erst hat das Gericht der Europäischen Union das von Syngenta und Bayer Crop Science angefochtene Verbot von bienenschädlichen Pestiziden bestätigt. Der Prozess hat acht Jahre gedauert und Millionen gekostet.

Das Vorsorgeprinzip wird missachtet

Das in der Schweiz sehr wichtige Vorsorgeprinzip, wonach Einwirkungen frühzeitig zu beschränken sind, wenn sie für Mensch oder Umwelt schädlich sein könnten, wird bei den Pestiziden weitgehend missachtet. Nur so ist etwa zu erklären, dass nach wie vor zwei Dutzend für Menschen reproduktionstoxische Pestizide mit einer Verkaufsmenge von über 100 Tonnen pro Jahr in der Schweiz zugelassen sind. Auch die Dauervergiftung von kleineren Gewässern ist seit Jahren bekannt. Obwohl die Rechtsgrundlagen für einen Bewilligungsentzug schon im heutigen Regelungssystem vorhanden sind, haben es die Behörden bislang nicht geschafft, diese Gifte aus dem Verkehr zu ziehen.

Eine Hand wäscht die andere

Die Bewilligung für Pestizide wird heute vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) erteilt. Das BLW ist auch zuständig, um früher bewilligte Pestizide zu überprüfen und gegebenenfalls zu verbieten. Soweit es um Umweltbelange geht, werden die Entscheide fachlich aufbereitet durch Agroscope. Agroscope ist eine Bundesanstalt unter der Leitung des BLW. Gesundheitliche Aspekte werden beurteilt vom SECO (Arbeitssicherheit) und Bundesamt für Lebenbsmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV; Lebensmittel, Trinkwasser). Die Rolle des Bundesamts für Umwelt (BAFU) war bislang marginal: Es darf bestimmen, welche Warnhinweise auf der Etikette eines Pestizids stehen.

Das BLW ist nicht nur zuständig für Pestizidbewilligungen, sondern auch für die Förderung der landwirtschaftlichen Produktion. Weil mit mehr und giftigeren Pestiziden durchaus für eine gewisse Zeit die Produktion gesteigert werden kann, befindet sich das BLW in einem schweren Interessenkonflikt. Seine gleichzeitige Beherrschung der Fachstelle Agroscope verhindert zudem eine unabhängige Beurteilung. Der Bundesrat hat immerhin erkannt, dass dies geändert werden muss: Ab 2022 soll für die Pestizidbewilligung nicht mehr das BLW sondern das BLV zuständig sein. Dazu wird die Rolle des BAFU gestärkt. Wie das Zulassungsverfahren in Zukunft umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Wichtige Mängel bleiben.

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