Wirkstoffe von Pflanzenschutzmitteln (PSM) werden auf EU-Ebene zugelassen. Für die Zulassung der Produkte, also der eigentlichen PSM, sind die einzelnen EU-Länder zuständig. Seit längerem wird darüber gestritten, welche Kompetenzen und Pflichten die EU-Länder haben, wenn sie der Meinung sind, ein PSM erfülle die Zulassungskriterien nicht, weil der in ihm enthaltene Wirkstoff zum Beispiel Bienen gefährdet oder das Hormonsystem der Menschen schädigt (endokrine Disruptoren). Ebenso war bislang unklar, ob eine Umweltorganisation von der nationalen Zulassungsbehörde fordern kann, es müsse auf neuste, wissenschaftliche Erkenntnisse abgestellt werden. Zwei solche Fälle hat der Europäische Gerichtshof am 25. April 2024 nun zugunsten von Mensch und Natur entschieden. Die gerichtlichen Vorgaben reichen über die Einzelfälle hinaus und betreffen alle PSM-Zulassungen.
Erster Fall: Zulassungsbehörde für Pflanzenschutzmittel muss neuste wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen
Im ersten Fall1 ging es um das PSM «Closer» mit dem für (Bestäuber-)insekten hochgiftigen Wirkstoff Sulfoxaflor (gleicher Wirkmechanismus wie Neonicotinoide; subletale Wirkung etwa Desorientierung der Bienen). Bislang hat kein europäisches Land eine Freilandzulassung für Closer erteilt (bewilligt wurde nur die Anwendung im Gewächshaus; Antrag in der Schweiz seit 2018 hängig). Trotzdem erteilte CTGB eine Bewilligung für Kohl und Kartoffeln im Freiland. Dagegen erhob PAN Europe Beschwerde vor dem obersten holländischen Gericht. Pan Europe machte namentlich geltend, dass Sulfoxaflor bislang nur nach der veralteten Bienen-Leitlinie der EU von 2002 geprüft wurde (durch Irland bei der Wirkstoffzulassung von 2015), nicht aber nach der neueren Bienen-Leitlinie von 2013, die auch subletale Wirkungen einbezieht. Würde auf die neuere Leitlinie abgestellt, hätte keine Zulassung erteilt werden dürfen. Das holländische Gericht gelangte darauf mit einem sogenannten «Vorabentscheidungsersuchen» an den Europäischen Gerichtshof. Dieser erteilte dem holländischen Gericht (u.a.) die folgenden Vorgaben:
- Beschwerdeführer (z.B. Umweltorganisationen) können bei der Anfechtung der Zulassung von PSM die neusten wissenschaftlichen oder technischen Daten geltend machen, um zu zeigen, dass die Risikobewertung bei der damaligen Wirkstoffzulassung unzureichend war.
- Dazu gehört etwa auch die Rüge, dass eine Beurteilung nach den aktuellsten Leitlinien zu einer Verweigerung der Zulassung führen muss.
- Die PSM-Zulassungsbehörde muss sich mit diesen Informationen befassen.
- Die PSM-Zulassungsbehörde darf und muss in die Wirkstoffbeurteilung eingreifen, wenn dies nach den neusten wissenschaftlichen oder technischen Daten gerechtfertigt ist.
- Das Vorsorgeprinzip und das Ziel der Pflanzenschutzmittelverordnung, ein hohes Schutzniveau für Mensch und Umwelt zu erreichen, geht dem Bedürfnis der Gesuchsteller nach Rechtssicherheit vor.
Zweiter Fall: Zulassungsbehörde für Pflanzenschutzmittel muss endokrinschädliche Eigenschaften nach neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen beurteilen
Im zweiten Fall2 ging es um die Zulassung von zwei PSM, die je zwei (verschiedene) Fungizid-Wirkstoffe enthalten. In jedem der beiden PSM war ein Wirkstoff problematisch: im ersten Fludioxonil und im zweiten Difenoconazol. Für beide Wirkstoffe bestehen eindeutige wissenschaftliche Daten, welche sie als endokrine Disruptoren ausweisen. Trotzdem bewilligte die holländische Behörde CTGB die PSM. Auch hier erhob Pan Europe Beschwerde. Und abermals gelangte das holländische Gericht an den Europäischen Gerichtshof, um die Regeln zu klären. Der Europäische Gerichtshof entschied wie folgt:
- Ein Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, PSM mit von der EU genehmigten Wirkstoffen zuzulassen, wenn wissenschaftliche oder technische Erkenntnisse ein unannehmbares Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder für die Umwelt bei der Verwendung dieses Mittels zeigen.
- Die PSM-Zulassungsbehörde ist verpflichtet, die zum Zeitpunkt der Prüfung verfügbaren einschlägigen und zuverlässigen wissenschaftlichen oder technischen Erkenntnisse zu endokrinschädlichen Eigenschaften eines Wirkstoffs zu berücksichtigen. Es ist in solchen Fällen nicht zulässig, bloss auf (oft veraltete) Industriestudien abzustellen.
Folgen für die Schweiz
Auch in der Schweiz werden bei der Zulassung oder Überprüfung von PSM bislang nicht die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt, wenn diese nicht Gegenstand der Wirkstoffgenehmigung in der EU waren. Oft sind die Dokumente, auf welche abgestellt wird, über 10 Jahre alt. Diese Praxis würde mit den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs auch in der Schweiz an ein Ende kommen, wären da nicht die angelaufene Totalrevision der Pflanzenschutzmittelverordnung sowie parlamentarische Vorstösse, die darauf abzielen, dass PSM aus EU-Ländern von der Schweiz prüfungslos übernommen werden. Wie sich diese Sache weiterentwickelt, ist derzeit unklar.
- Das erste Urteil (C 308 22) auf Deutsch und Französisch ↩︎
- Das zweite Urteil (C-309-22 und C-310-22) auf Deutsch und Französisch ↩︎