Wenn Heilung zum Schaden wird: Ivermectin – zwischen Medizin und Umwelt

Ivermectin wird erfolgreich zur Behandlung von Tropenkrankheiten eingesetzt. Heute gefährdet derselbe Wirkstoff Insekten, Vögel und ganze Ökosysteme – auch bei uns in den Alpen. Eine Geschichte über blinde Flecken im medizinischen Fortschritt.
Ivermectin (Symbolbild) als Heilmittel für Tropenkrankheiten und als Gefährdung unserer Ökosysteme. Bild @Aviavlad
Ivermectin (Symbolbild) als Heilmittel für Tropenkrankheiten und als Gefährdung unserer Ökosysteme. Bild @Aviavlad

Das Wichtigste in Kürze:

  • Ivermectin wurde in den 1970er-Jahren aus einem Bodenbakterium isoliert und 2015 als wirksames Mittel gegen Tropenkrankheiten mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
  • In der Veterinärmedizin wird Ivermectin grossflächig zur Entwurmung eingesetzt, insbesondere bei Schafen und Rindern.
  • Der Wirkstoff wird mit dem Kot ausgeschieden und tötet dann in der Umwelt wichtige Dunginsekten. So werden der natürliche Nährstoffkreislauf und die Bodenfruchtbarkeit gestört.
  • Der Rückgang von Dunginsekten gefährdet Insektenfresser wie die Alpenkrähe – ein Beispiel für unerwünschte Auswirkungen auf bedrohte Tierarten.

Der Verein ohneGift fordert:

Der Einsatz von Ivermectrin soll auf die menschliche Gesundheit beschränkt werden – und auch dort nur, wo es wirklich nötig ist. Der Einsatz als Tierarzneimittel muss überdacht werden. Zudem sollen Tierarzneimittel einer verpflichtenden Risiko- und Umweltprüfung unterzogen werden – denn ihre Auswirkungen auf Ökosysteme dürfen nicht länger ignoriert werden.

Ivermectin – eine Erfolgsgeschichte?

Ivermectin wurde in den 1970er Jahren aus einer in Japan entdeckten Bodenbakterie (Streptomyces avermitilis) isoliert. Der Wirkstoff Ivermectin hat eine antiparasitäre Wirkung. Ursprünglich wurde Ivermectin in der Veterinärmedizin zur Behandlung von Parasiten bei Nutztieren eingesetzt. Später zeigte sich, dass es auch beim Menschen gegen bestimmte Tropenkrankheiten hochwirksam ist, insbesondere gegen die Flussblindheit (Onchozerkose) und lymphatische Filariose (siehe Infobox).[1] Für diese Entdeckung erhielten William C. Campbell und Satoshi Omura 2015 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.[2] Ivermectin gilt seither als eines der wirksamsten Medikamente zur Bekämpfung parasitärer Wurmerkrankungen, insbesondere in Ländern des globalen Südens.[1]

Onchozerkose und Lymphatische Filarose

Onchozerkose, oder die «Flussblindheit» ist eine durch den Parasiten Onchocerca volvulus hervorgerufen Krankheit. Über die Kriebelmücke wird sie auf den Menschen übertragen. Zu den Symptomen zählen Hauterkrankungen und Juckreiz bis hin zu Sehstörungen und dauerhafter Blindheit. [3]

Die Lymphatische Filarose ist ebenfalls eine parasitäre Krankheit. Sie beeinträchtigt das Lymphsystem und führt zu abnormalen Vergrösserungen von Körperteilen. Die Krankheit ist auch bekannt unter dem sprechenden Wort «Elephantitis».[4]

Entwurmungsmittel mit ökologischen Risiken

Heute wird Ivermectin in der Nutztierhaltung sehr breit eingesetzt– vor allem zur Entwurmung von Schafen und Rindern.[5] Der Wirkstoff wird nach der Verabreichung grösstenteils unverändert mit dem Kot ausgeschieden und gelangt so auf Weiden und Alpwiesen. Dort entfaltet er seine Wirkung weiter: Er tötet Mistkäfer, Dungfliegen und andere Insekten, die den Kot abbauen. Dadurch werden wichtige Abläufe des ökologischen Nährstoffkreislaufes behindert. [6]

Ivermectin hat eine lange Verweildauer in der Umwelt: Im Winter verbleibt es 91 bis 217 Tage im Boden oder in der Boden-Kot-Mischung. Auch im Sommer bleibt es bis zu zwei Wochen aktiv.[7] Diese Dauer reicht aus, um Insekten mit wichtiger ökologischer Funktion zu gefährden. So zum Beispiel die Dungfliege oder den Dungkäfer, welche auf frischen Dung zur Eiablage angewiesen sind.[6]

Daraus resultieren ökologisch und ökonomisch problematische Folgewirkungen: Weniger Dung abbauende Insekten bedeuten eine Reduktion der biologischen Zersetzung, was die Bodenfruchtbarkeit vermindert. Auch die Weidehygiene wird negativ beeinflusst, sprich die Menge an Parasiten und Krankheitserreger auf einer Weide wird erhöht. Das wiederum resultiert in einem erhöhten Medikamenteneinsatz. Langfristig wird in der Summe also auch die landwirtschaftliche Produktivität beeinträchtigt – ein Teufelskreis.[8]

​Dazu kommt, dass Ivermectin reproduktionstoxisch (H360D) und vermutlich krebserregend (H351) ist[9]. Die Einstufung H360D bedeutet, dass eine Wirkung bei Mensch und Tier zu erwarten ist. 

Keine Umweltrisikoabschätzung für Tierarzneimittel

Zum heutigen Zeitpunkt muss für die Zulassung von Tierarzneimitteln keine Risikoüberprüfung betreffend Umwelt durchgeführt werden. Das Heilmittelgesetz gibt nur eine Risikoüberprüfung für Mensch und Tier vor.[10] Bereits in unserem Artikel «Zeckenschutzmittel für Hunde und Katzen – Risiken für Gewässer und Mensch» haben wir über diese Problematik berichtet.  

Biodiversitätsverlust: Der Fall Alpenkrähe

Die toxische Wirkung von Ivermectin beschränkt sich jedoch nicht auf den Boden: Viele Vogelarten sind davon betroffen. Der Rückgang von Dunginsekten hat direkte Folgen für Tiere, die auf diese Insekten als Nahrungsquelle angewiesen sind – darunter die Alpenkrähe (Pyrrhocorax pyrrhocorax).[5]  Die Alpenkrähe (siehe Abbildung 1) ist in der Schweiz eine vom Aussterben bedrohte Art, die nur noch im Wallis vorkommt.[11] Sie ernährt sich insbesondere in alpinen Regionen zu einem grossen Teil von Käfern und Fliegen, die auf Dung vorkommen. Wenn diese Insektenpopulationen durch Ivermectin drastisch zurückgehen, verlieren die Krähen eine wichtige Nahrungsgrundlage.[5]  Auch wenn die Aussterbeursache nicht ausschliesslich auf Ivermectin zurückzuführen ist, rückt Ivermectin trotzdem als Gefahr für geschützte oder bedrohte Tierarten in den Fokus. 

Abbildung 1: Die Alpenkrähe (Pyrrhocorax pyrrhocorax) – eine vom Aussterben bedrohte Vogelart im Alpenraum. Bild: Wikipedia Commons @Malte Uhl. 

Kontroverser Einsatz während COVID-19

Während der COVID-19 Pandemie 2020-2021 rückte Ivermectin in den öffentlichen Fokus: Von einigen Gruppen wurde Ivermectin als Heilmittel gegen COVID-19 propagiert, was dazu führte, dass immer mehr Menschen tiermedizinische Ivermectin-Präparate konsumierten. Diese Entwicklung hatte eine Zunahme an Vergiftungsfällen zur Folge[12]. Auch in der Schweiz zeigte sich dieser Hype.[13] Die European Medicines Agency (EMA)[14] veröffentlichte die Empfehlung, Ivermectin nicht ausserhalb von kontrollierten klinischen Studien anzuwenden. Ausserdem stellte die Behörde keine belegte Wirkung von Ivermectin gegen COVID-19 fest. 

Die andere Seite der Medaille

Der Fall Ivermectin verweist auf eine grundsätzliche Lücke im Verfahren zur Vergabe des Medizin-Nobelpreises: Bei der Auswahl werden ausschliesslich medizinische Kriterien berücksichtigt, etwa Wirksamkeit und globale Gesundheitsrelevanz. Umweltauswirkungen spielen keine Rolle.

Ein vergleichbarer Fall ist die Auszeichnung mit einem Nobelpreis von Paul Hermann Müller im Jahr 1948 für die Entdeckung des Insektizids DDT[15]. Auch hier zeigte sich erst später, dass die Substanz erhebliche Umwelt- und Gesundheitsrisiken mit sich brachte: DDT reicherte sich sowohl in tierischem und menschlichem Fettgewebe als auch in der Umwelt an. Nach der Erkenntnis, dass DDT die Schalendicke von Vogeleiern verringert, somit die Fortpflanzung von verschiedenen Vogelarten verhinderte und zudem zum Insektensterben beiträgt, wurde seine Anwendung nach und nach verboten.[16]

Diese Beispiele verdeutlichen, dass medizinische Durchbrüche nicht automatisch umweltverträglich sind – und dass wissenschaftliche Auszeichnungen nicht zwangsläufig eine umfassende Bewertung aller Risiken beinhalten.

Fazit

Ivermectin ist ein medizinischer Fortschritt mit Schattenseiten. Während es weltweit erfolgreich zur Krankheitsbekämpfung bei Menschen eingesetzt wird, gefährdet sein verbreiteter Einsatz in der Tiermedizin Insekten und damit ganze Nahrungsketten. Das Beispiel zeigt auf, wie wichtig es ist, Umweltfolgen bei der Zulassung von Wirkstoffen zu berücksichtigen.


[1] Omura and Crump (2004): The life and times of ivermectin – a success story

[2] The Nobel Prize (2015): Satoshi Omura – Facts

[3] World Health Organisation (2025): Onchocerciasis

[4] WHO (2024): Lymphatic filariasis

[5] Graf und Bitterlin (2015): Alpenkrähen in den Ostalpen

[6] Schoof und Luick (2019): Antiparasitika in der Weidetierhaltung

[7] Halley et al. (1993): Environmental effects of the usage of avermectins in livestock

[8] Lumaret (2013): Antiparasitics and their impact on soil and dung fauna

[9] Wikipedia (2025): Ivermectin

[10] Heilmittelgesetz (2000): 812.21 Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte

[11] Schweizerische Vogelwarte Sempach: Alpenkrähe (abgerufen am 05.06.2025)

[12] Austria Presse Agentur (2021): Arzneihersteller warnt vor Einnahme von Ivermectin bei Covid-19

[13] Blick (2021): Impfskeptiker schwören auf Entwurmungsmittel für Pferde

[14] European Medicines Agency (2021): EMA advises against use of invermectin for the prevention or treatment of COVID-19 outside randomised clinical trials

[15] The Nobel Prize (2025): Nobel Prize in Physiology or Medicine 1948: Paul Hermann Müller

[16] Bayer (2024): Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT)

Wir schreiben selbstständig. Der Verein ohneGift verzichtet auf den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) beim Verfassen von Texten.

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