Der Verein ohneGift fordert:
Die Umwelt und Bevölkerung müssen besser vor Chemikalien-Cocktails geschützt werden. Ein erster Schritt soll darin bestehen, einen Mischungsbewertungsfaktor (MAF) in der schweizerischen und europäischen Chemikalienverordnung einzuführen. Ausserdem ist bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln und Bioziden mit mehreren Wirkstoffen die Mischungstoxizität direkt am Produkt zu testen.
Die Wege der Chemikalien
Von der Produktion bis zum Verbrauch gelangen chemische Substanzen in die Umwelt und den Körper. Allein in einer PET-Flasche können mehr bedenkliche Chemikalien nachgewiesen werden, als ich jemals an T-Shirts besitzen werde. In einer neuen Studie wurde gezeigt dass rund 83 % der getesteten Chemikalien in Kunststoff-Lebensmittelkontaktmaterialien tatsächlich in Lebensmittel migrieren (siehe auch „Plastik als Risiko: Tausende Chemikalien und kaum Kontrolle“). Weil die Industrie die Inhaltsstoffe nur zum Teil offenlegt, kann die tatsächliche Belastung noch höher liegen[1]. Die Gefahr steckt aber nicht nur in Verpackungsmaterialien. Auch von Landwirtschaftsland (Pflanzenschutzmittel, Gülle), Strassen, aus der Luft oder aus Abwasserreinigungsanlagen gelangen Chemikalien in die Umwelt und reichern sich, je nach Langlebigkeit der Stoffe, in aquatischen und terrestrischen Ökosystemen an. Es ist deshalb nicht überraschend, dass die gesamte Nahrungskette einem wilden Chemikalien-Cocktail ausgesetzt ist[2] (siehe auch: «Babys würden Bio kaufen»). Das kumulative Schadenpotenzial wird als Mischungstoxizität oder (umgangssprachlich) Cocktail-Effekt bezeichnet[3], [4].
«something from nothing»
Dieser Titel geht auf eine (damals) revolutionäre Studie aus dem Jahr 2002 zurück. ForscherInnen untersuchten die Mischungswirkung von acht endokrinen Disruptoren, die an Östrogenrezeptoren binden. Die Konzentrationen der einzelnen Chemikalien lagen nahe an der Hintergrundbelastung in der Umwelt und immer unterhalb des als schädlich eingestuften Grenzwertes (siehe Abbildung 2). Trotzdem zeigten die Resultate ein signifikantes Schadenpotenzial[2]. Dies zeigt, dass jeder noch so kleine Bestandteil eines Gemisches zum Gesamteffekt beiträgt[5].

Mischungseffekt in der Praxis trotz gesetzlicher Vorschrift ignoriert
Bei den Risikobewertungen von Chemikalien wird heute ausser Acht gelassen, dass Mensch und Umwelt mit einem Gemisch belastet werden. Die Mischungstoxizität wird nicht einmal getestet, wenn in einem bestimmten Produkt (Bsp. Pflanzenschutzmittel, Biozide, Putzmittel) mehrere Wirkstoffe enthalten sind (Ausnahme: Arzneimittel).
Die Bewertungen der meisten chemischen Substanzen erfolgen bloss isoliert, das heisst, die Schwellenwerte beziehen sich auf die tägliche bzw. wöchentliche Aufnahme, ohne dass Wechselwirkungen mit anderen Substanzen berücksichtigt werden. Dies führt zu einer Unterschätzung der schädlichen Auswirkungen bei der Risikobewertung und zu einem unzureichenden Schutz von Umwelt und Bevölkerung[2].
Dies steht im Widerspruch zu Art. 8 des Umweltschutzgesetzes, der lautet: «Einwirkungen werden sowohl einzeln als auch gesamthaft und nach ihrem Zusammenwirken beurteilt.» OhneGift ist bekannt, dass dieser Mangel von NGO’s gegenüber der Zulassungsstelle für Pflanzenschutzmittel schon mehrmals gerügt wurde; bislang vergeblich.
Beispiel Phthalate
Phthalate sind Chemikalien, die vor allem als Weichmacher in PVC-Kunststoffen verwendet werden; sie können aber auch in anderen Materialien wie importierte Kosmetika, altes Spielzeug, Textilien, Schuhe, Baumaterial etc. vorkommen[6], [7]. Aufgrund ihrer vielseitigen Verwendungszwecke sind sie in der Umwelt allgegenwärtig – sie finden sich sogar im Staub[8]. Acht Million Tonnen davon werden jährlich produziert[9]. Je nach Verbindung wirken sie toxisch auf die Leber, beeinträchtigen die Entwicklung und Fortpflanzungsfähigkeit oder beeinflussen das Hormonsystem[6].
Eine deutsche Studie analysierte über einen Zeitraum von 27 Jahren und anhand von Urinproben die Expositionen der Teilnehmenden gegenüber fünf Phthalaten (DBP, DIBP, BBP, DEHP und DINP). Befund: Die Kombinationswerte überschritten die «sicheren» Konzentrationen deutlich. Problematisch sind einerseits die kumulativen Effekte, andererseits auch die Fähigkeit von Phthalaten, mit einer Reihe anderer Substanzen zu interagieren und den Hormonhaushalt zu stören[10]. Deshalb wurde die Verwendung von vier dieser Phthalate per Gesetz beschränkt[8]. Ersatzstoffe wie DINCH werden derzeit noch in geringen Mengen nachgewiesen, sollten aber aufgrund ihres zunehmenden Einsatzes im Auge behalten werden[11].
Phthalate sind nur eine von vielen Chemikaliengruppen, die fortpflanzungsgefährdend oder anderweitig schädlich sind[2], [8]. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, komplexe Gemische von Chemikalien zu berücksichtigen.
Kein Entkommen für Meeressäuger
Spitzenprädator mit langer Lebensdauer zu sein, bedeutet in der heutigen Zeit auch, viele langlebige (persistente) Chemikalien zu akkumulieren. Insbesondere persistente Industriechemikalien wie POPs (Persistent Organic Pollutants) lagern sich im Fettgewebe von Meeressäugetieren ein[2] und schwächen das Immunsystem über lange Zeit, was Infektionskrankheiten begünstigt[12]. So wurde etwa 15 Jahre nach dem globalen Verbot von POPs in einem verendeten Orca die höchste jemals gemessene Konzentration an polychlorierten Biphenylen (PCB, gehören zu den POPs) nachgewiesen[2]. Trotz Verbot gelten POPs wie PCB und DDT weiterhin als grosse Bedrohung für Meeressäuger. Zusätzlich werden sie noch durch weitere Schadstoffe wie PFAS, Phthalate und Pestizide belastet. Auch diesbezüglich wird die tatsächliche immunotoxische Gefahr bislang unterschätzt[12].
Chemikalien noch vor der Muttermilch
In einer neuen Studie aus Deutschland wurden Plasmaproben von 624 schwangeren Frauen auf Chemikalien untersucht. Ergebnis: Alle Frauen hatten einen komplexen Chemikalien-Cocktail im Körper. Insgesamt wurden 294 Substanzen unterschiedlicher Herkunft, beispielsweise aus Lebensmitteln, Pestiziden oder Körperpflegeprodukten nachgewiesen[3].
Der politische Stand der Dinge
Die Forschung zur Toxizität von Chemikaliengemischen wird seit Jahrzehnten betrieben. 2007 führte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Workshop zu diesem Thema durch[2]. Im selben Jahr trat die EU-Chemikalienverordnung REACH («Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien») in Kraft[13]. Die Schweizer Chemikalienverordnung (ChemV) stimmt grösstenteils mit REACH überein. Weitere elf Jahre dauerte es, bis die Anwendung der vier Phthalate DEHP, DBP, BBP, und DIBP per REACH-Verordnung beschränkt wurde (siehe oben). Dies ist zwar ein Erfolg, bei zahlreichen weiteren Stoffgruppen mangelt es bislang jedoch an einer solchen Regulierung. Deshalb verlangt eine Gruppe von WissenschaftlerInnen in einem offenen Brief an die Europäische Kommission, Mischungseffekte bei der Revision der REACH-Verordnung zu berücksichtigen.
Allgegenwärtig, akkumulierbar und immunotoxisch klingt ausweglos – was sind die Lösungsansätze?
Ein viel diskutierter Ansatz zur Berücksichtigung der Wirkung komplexer Chemikaliengemische in der Umwelt (Bsp. Gewässer) oder in Lebensmitteln ist die Anwendung eines «Mixture Allocation Factors» (auch «Mixture Assessment Factor», MAF) in der Risikobewertung[14]. Die Idee dabei ist, dass Chemikalien weiterhin konventionell und einzeln bewertet werden, durch den MAF jedoch ein zusätzlicher Sicherheitsfaktor zum Tragen kommt. Damit wird die gleichzeitige Exposition gegenüber verschiedenen Chemikalien berücksichtigt[2]. Der MAF gilt als pragmatische und schnell anwendbare Lösung[14], [15].
Mischungstoxizität in Produkten
Längst überfällig ist die Bewertung von Wirkstoff-Gemischen in ein und demselben Produkt, etwa einem bestimmten Pflanzenschutzmittel oder Biozid. Hierzu können die üblichen Toxizitätstests statt am einzelnen Wirkstoff am Gemisch ausgeführt werden. Just do it.
[1] Monclús et al. (2025): Mapping the chemical complexity of plastics
[2] CHEM-Trust (2022): Chemical Cocktails
[3] Braun et al. (2024): Neurotoxic mixture effects of chemicals extracted from blood of pregnant women
[4] Kienzler et al. (2014): Assessment of Mixtures
[5] Silva et al (2002): Something from nothing
[6] Umweltbundesamt (2013): Häufige Fragen zu Phthalaten bzw. Weichmachern (abgerufen am 15.07.2025)
[7] BAG (2019): Factsheet Phthalate
[8] VERORDNUNG (EU) 2018/ 2005 DER KOMMISSION
[9] Baloyi et al. (2021): Insights Into the Prevalence and Impacts of Phthalate Esters in Aquatic Ecosystems
[10] Apel et al. (2020): Time course of phthalate cumulative risks to male developmental health
[11] Giovanoulis et al. (2018): Multi-pathway human exposure assessment of phthalate esters and DINCH
[12] Desforges et al. (2017): Effects of Polar Bear and Killer Whale Derived Contaminant Cocktails on Marine Mammal Immunity
[13] wikipedia: REACH (abgerufen am 15.07.2025)
[14] Treu et al. (2024): Regulatory and practical considerations on the implementation of a mixture allocation factor in REACH
[15] Rudén et al. (2025): Chemical mixtures pose a risk to ecosystems, biodiversity and human health
