Worum geht es?
Das Urteil des Pariser Verwaltungsberufungsgericht (Cour administrative d’appel de Paris) vom 3. September 2025 ist eine Folge von Beschwerden beider Seiten – Naturschutzverbände und Regierung – gegen das Urteil vom 29. Juni 2023 (ohneGift berichtete: Pariser Verwaltungsgericht verurteilt französischen Staat).
2022 klagten Naturschutzverbände gegen den französischen Staat. Sie warfen ihm eine mangelhafte Risikobewertung im Zulassungsverfahren von PSM vor und dass diese Versäumnisse für den Rückgang der Biodiversität verantwortlich seien. Das Verwaltungsgericht gab ihnen teilweise Recht. Es verpflichtete die Regierung, bis zum 30. Juni 2024 Massnahmen zur Behebung bestehender und zur Vermeidung neuer ökologischer Schäden zu ergreifen. Die Hauptforderung nach einer Überprüfung der PSM-Zulassungen unter Einbezug des aktuellen Wissensstandes wurde damals jedoch abgelehnt. Dagegen legten die Naturschutzverbände Beschwerde vor dem Pariser Verwaltungs-Appellationsgericht ein.
Reform des Zulassungsverfahrens nun rechtsverbindlich
Zwar hob das Appellationsgericht die genannten Handlungspflichten für die Regierung auf. Die Gründe waren, dass eine Entschädigung für ökologische Schäden «in natura» unmöglich ist und die Verbände ihre Begehren nicht genügend klar formulierten. Es blieb deshalb bei einem symbolischen Schadensersatz von einem Euro.
Demgegenüber verschärfte es aber das erstinstanzliche Urteil, indem es die Hauptforderung der Naturschutzverbände guthiess. Das Gericht rügt insbesondere die Missachtung des Vorsorgeprinzips und der Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs, der eine Bewertung auf der Grundlage der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse verlangt (siehe Europäischer Gerichtshof: Bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln…). Es verpflichtet die Regierung, innerhalb von zwei Jahren eine Neubewertung aller zugelassenen rund 2’800 PSM[1] durchzuführen. Diese muss auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren und insbesondere die Risiken für Nichtzielarten und Grundwasserkontamination berücksichtigen. Ein Zeitplan dafür soll innerhalb von sechs Monaten dem Gericht eingereicht werden.
Im Ergebnis verlangt das Urteil des Appellationsgerichts auch eine Reform des Zulassungsverfahrens, nämlich:
- Risiko-Neubewertungen müssen auf dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik stattfinden und nicht nach veralteten europäischen Leitlinien.
- Berücksichtigung von chronischen Nebenwirkungen und «Cocktail-Effekten» (siehe Weisst du, was du alles intus hast?)
- Konsequente Umsetzung der Aktionspläne (Ecophyto) zur Reduktion der Pestizideinsätze
- Pestizidmonitoring im Grundwasser mit Qualitätskontrollen und Ergreifen von Schutzmassnahmen (Schutz sensibler Gebiete, Restriktionen, lokale Verbote oder Sanierungsmassnahmen bei Überschreitung der Grenzwerte)
- Einschränkungen oder Zulassungswiderruf von PSM, deren Anwendungen zu hohe Risiken für Mensch und Umwelt bergen
- Symbolische Entschädigung von je einem Euro an die Verbände zur «Wiedergutmachung des immateriellen Schadens»
Rechtliche Besonderheiten
Zwei Besonderheiten zeichnen diesen Gerichtsprozess aus: Erstens konnten die Naturschutzverbände ihre Klage auf zivilrechtliche Umwelt-Haftungsregeln stützen (Artikel 1246 bis 1248 Code Civil, vgl. Kasten). Zweitens fand der Prozess nicht vor einem Zivilgericht, sondern vor einem Verwaltungsgericht statt.
Beides gibt es, soweit uns bekannt, nur in Frankreich.
Umwelt-Haftungsregeln im französischen Code Civil (Stand Oktober 2025, deutsche Übersetzung kursiv):
Art. 1246 : «Toute personne responsable d’un préjudice écologique est tenue de le réparer.»
«Wer einen ökologischen Schaden verursacht, ist verpflichtet, ihn zu beheben.»
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Art. 1247 : «L’action en réparation du préjudice écologique est ouverte à toute personne ayant qualité et intérêt à agir, telle que l’Etat, l’Office français de la biodiversité, les collectivités territoriales et leurs groupements dont le territoire est concerné, ainsi que les établissements publics et les associations agréées ou créées depuis au moins cinq ans à la date d’introduction de l’instance qui ont pour objet la protection de la nature et la défense de l’environnement. »
«Die Klage auf Entschädigung für ökologische Schäden steht allen berechtigten und klagenden Personen offen, beispielsweise dem Staat, dem französischen Amt für Biodiversität, den lokalen Behörden und ihren Gruppen, deren Gebiet betroffen ist, sowie öffentlichen Einrichtungen und Vereinigungen, die zum Zeitpunkt der Klageerhebung vor mindestens fünf Jahren zugelassen oder gegründet wurden und deren Zweck der Schutz der Natur und die Verteidigung der Umwelt ist.»
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Art. 1248: «La réparation du préjudice écologique s’effectue par priorité en nature.
En cas d’impossibilité de droit ou de fait ou d’insuffisance des mesures de réparation, le juge condamne le responsable à verser des dommages et intérêts, affectés à la réparation de l’environnement, au demandeur ou, si celui-ci ne peut prendre les mesures utiles à cette fin, à l’Etat.
L’évaluation du préjudice tient compte, le cas échéant, des mesures de réparation déjà intervenues, en particulier dans le cadre de la mise en œuvre du titre VI du livre Ier du code de l’environnement.»
«Der Ausgleich von Umweltschäden erfolgt in erster Linie in Form von Sachleistungen.
Sollten Sanierungsmaßnahmen rechtlich oder tatsächlich unmöglich oder unzureichend sein, verurteilt das Gericht den Verursacher zur Zahlung des für die Umweltsanierung vorgesehenen Schadensersatzes an den Kläger oder, sofern dieser nicht in der Lage ist, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, an den Staat.
Bei der Schadensbewertung werden gegebenenfalls bereits getroffene Sanierungsmassnahmen berücksichtigt, insbesondere im Rahmen der Umsetzung von Titel VI des Ersten Buches des Umweltgesetzbuchs.»
Ein Hoffnungsschimmer im französischen Politchaos?
Nach innenpolitisch turbulenten Monaten in Frankreich ist seit Mitte Oktober das Kabinett Lecornu II neu geformt. Es besteht hauptsächlich aus Minister:innen der Partei Macrons, der Renaissance (politischen Mitte), weiteren aus dem mitte-rechts Lager und einzelnen parteilosen. Das Umweltministerium wird von Monique Barbut, der ehemaligen Leiterin des französischen WWF’s übernommen[2]. Hat die Regierung Bestand, kann darauf gehofft werden, dass mit ihr der Schutz von Böden, Biodiversität und Wasser eine starke Stimme erhält. Scheitert sie, bleibt immerhin das Gerichtsurteil intakt.
Profitiert der Rest von Europa von diesem Entscheid?
Frankreich ist nun gezwungen, sich in den nächsten zwei Jahren intensiv mit den Risiken von PSM auseinanderzusetzen und die PSM-Bewilligungen im Lichte der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse überprüfen. Dies wird Druck erzeugen, dass auch andere Länder entsprechend vorgehen. Es besteht also Hoffnung, dass ganz Europa von diesem Entscheid profitiert.
Schweiz geht gerade in die andere Richtung
In der Schweiz geht die Entwicklung derzeit gerade in die andere Richtung: Die Prüfung wird immer schwächer. Im Dezember 2025 tritt die neue Pflanzenschutzmittelverordnung in Kraft, welche sogenannt vereinfachte Zulassungen von PSM aus den Nachbarländern vorsieht. Nach der neuen Regelung findet keine eigenständige Gesundheits- und Umweltprüfung mehr statt.
Lesen Sie das ganze Urteil auf deutsch oder die Originalfassung auf französisch
[1] L’Etat doit réévaluer 2800 produits sous 24 mois (abgerufen am 27.10.2025)
[2] Lecornu stellt Kabinett vor: Neue Regierung in Frankreich steht (abgerufen am 24.10.2025)
