Mehr Chemikalien, weniger Worte

Chemikaliengemische, denen viele Frauen während der Schwangerschaft ausgesetzt sind, beeinträchtigen die normale Entfaltung ihrer Kinder. Es sind vor allem Gemische von hormonaktiven Substanzen, welche die Hirn- und Sprachentwicklung stören.
Gemische von hormonaktive Substanzen in der Schwangerschaft stören die Sprachentwicklung. Bild: Pixabay
März 11, 2022

Gastbeitrag: Jöelle Rüegg

Eine neue Studie bei schwangeren Frauen, publiziert in der Fachzeitschrift «Science»[i] zeigt, dass die Hirn- und Sprachentwicklung der Kinder durch ein Gemisch von hormonaktiven Substanzen beeinträchtigt werden kann. Und dies bereits bei Konzentrationen, die weit unter den jeweiligen gesetzlichen Grenzwerten für die Einzelstoffe liegen.

Das Cocktail -Problem

Täglich sind Mensch und Natur Tausenden von Chemikalien ausgesetzt, von denen einzelne unseren Hormonhaushalt stören können, sogenannte «endokrine Disruptoren». Zwar liegen die im Menschen gemessenen Werte für einzelne Chemikalien meist unter den heutigen Grenzwerten; doch gibt es immer mehr Hinweise darauf, dass die Chemikaliengemische, denen wir in der realen Welt ausgesetzt sind, die menschliche Gesundheit beeinträchtigen können. Die heutigen Risikobewertungen und damit die festgelegten Grenzwerte basieren jedoch seit jeher darauf, dass die Giftwirkung von Chemikalien nur am jeweiligen Einzelstoff untersucht wird. Unzählige Vorstösse, diesen Missstand zu ändern, sind bislang im Sand verlaufen. Ein Anliegen der neuen Chemikalienpolitik in der EU ist nun immerhin, auch Cocktail-Effekte einzubeziehen[ii]. Bis wann dies aber umgesetzt wird, steht in den Sternen.

Neuer Ansatz

Die Studie, ein Resultat des EU-finanzierten Forschungsprojektes EDC-MixRisk, basierte auf einem neuen Ansatz, der Messdaten in der Bevölkerung mit Experimenten kombinierte. So konnte das Risiko von Chemikalien-Cocktails bewertet werden. Die Studie wurde in drei Schritten durchgeführt:

  • Im ersten Schritt wurde in der schwedischen Bevölkerungsstudie SELMA eine Mischung von Chemikalien im Blut und Urin von schwangeren Frauen identifiziert, die mit einer verzögerten Sprachentwicklung ihrer Kinder im Alter von 30 Monaten assoziiert waren. Diese Mischung enthielt eine Reihe von Phthalaten, Bisphenol A und perfluorierte Chemikalien, die zum Beispiel aus Plastikverpackungen, Baumaterial, Kosmetika oder wasserabweisenden Belägen in Pfannen oder Kleider in die Körper der Frauen gelangt sind.
  • Im zweiten Schritt wurde die Hormonaktivität und Effekte dieser Mischung auf die Hirnentwicklung in verschiedenen Experimenten getestet. In menschlichen Hirnorganoiden, also 3D-Zellmodellen, die wichtige Prozesse der Hirnentwicklung nachahmen, veränderte die Mischung die Produktion von Genen, die verknüpft sind mit Hirnentwicklungsstörungen, zum Beispiel Autismus-Spektrum-Störungen. In Zebrafischen und Kaulquappen bewirkte die Mischung eine verringerte Schilddrüsenhormonfunktion und verändertes Verhalten. All diese Effekte traten schon bei Konzentrationen im Bereich der realen Messwerte bei schwangeren Frauen auf.
  • Im dritten Schritt wurden die Ergebnisse aus den experimentellen Studien verwendet, um das Risiko, dass diese Mischung für die menschliche Gehirnentwicklung darstellt, einzuschätzen. 

Klar höheres Risiko

Mit diesem Ansatz konnten die WissenschaftlerInnen zeigen, dass über 50 Prozent der schwangeren Frauen Chemikalien-Cocktails in Mengen ausgesetzt waren, die ein Risiko für die Hirn- und Sprachentwicklung ihrer ungeborenen Kinder darstellen. Diese Ergebnisse zeigen deutlich, dass die heute angewandten Methoden zur Risikobewertung von Chemikalien unzureichend sind, und dass in Zukunft Cocktail-Effekte berücksichtigt werden müssen.

Gastautorin Joëlle Rüegg ist Professorin für Umwelttoxikologie an der Universität Uppsala  und am Karolinska Institut in Schweden, einer von Europas grössten und angesehensten medizinischen Universitäten.

[i] N. Caporale et al., Science 375, eabe8244(2022). DOI: 10.1126/science.abe8244

[ii] https://ohnegift.ch/2022/02/16/eu-chemie-fuer-und-nicht-gegen-den-menschen-gesucht/

Weitere Infos (auf Englisch)

«More chemicals, fewer words: Exposure to chemical mixtures during pregnancy alters brain development», video summarising the main results of this study: https://www.youtube.com/watch?v=bJh9c-pyeYo

«EDC-MixRisk project studies the effects of chemical mixtures», film on the main results of EDC-MixRisk: https://www.youtube.com/watch?v=XumDwTEDcl0

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