Der Aufschrei diesen Sommer in Europa war gross. Schwedische Forscher:innen der Stockholmer Universität fanden heraus, dass die Agrochemie vorhandene Studien zur Entwicklungsneurotoxizität zu total 9 Pflanzenschutzmittelwirkstoffen besass, diese aber den Zulassungsbehörden der EU (European Food Safety Authority = EFSA) nicht eingereicht hatte. Eines dieser Pestizide ist Abamectin von Syngenta.
Was ist Abamectin?
Abamectin ist ein komplexes, chemisches Breitband-Insektizid, das aus Bodenbakterien gewonnen wird. Aufgrund seiner akariziden (gegen Milben gerichteten) und insektiziden Wirkung wird Abamectin vor allem zur Bekämpfung von Obst- und Gemüseschädlingen sowie bei Ziergehölzen eingesetzt. Der Wirkstoff wurde 2009 in der EU und der Schweiz zugelassen.
Wie wirkt Abamectin?
Wie die meisten anderen Insektizide wirkt Abamectin als Nervengift. Es blockiert die Reizübertragung zwischen Nervenzellen. Das betroffene Insekt wird gelähmt, hört auf zu fressen und stirbt nach 4 – 5 Tagen.
Wie gefährlich ist Abamectin für den Mensch?
Die zurückgehaltenen Studien von Syngenta belegen eine Entwicklungsneurotoxizität des Wirkstoffes (schädliche Auswirkungen auf das Kind im Mutterleib). Dem entsprechend stellte die EFSA im letzten Jahr (2022) schädliche Effekte auf Fortpflanzungsorgane fest. Sie bemängelte auch, dass Daten zur genotoxischen Natur der Substanz fehlen und konnte deshalb die Risikobewertung für Verbraucher nicht abschliessen.
Bei den Herstellern war man sich jedoch keiner Schuld bewusst. Die angesprochenen Studien hätte man nur für die Zulassung auf dem amerikanischen Markt erstellt. In der EU habe man sie aufgrund von Verschärfungen der Gesetze später nachgereicht. Solange man rechtlich nicht zur Einreichung von Studien verpflichtet sei, habe man dies auch nicht tun müssen. Tatsächlich ist ein solches Verhalten zwar nicht strafbar, aber auch nicht vorbildlich und vertrauensbildend. Gefragt ist nun vor allem der Gesetzgeber, der das Pflanzenschutzmittelrecht so stärken sollte, dass sich das nicht wiederholt. (siehe Kasten unten «Studien im Zulassungsverfahren?»). Die EU-Kommission äusserte sich nicht zum Fall Abamectin, schreibt aber allgemein, dass Hersteller verpflichtet seien «alle Informationen über potenziell schädliche Wirkungen des Wirkstoffs vorzulegen».
Studien im Zulassungsverfahren?
Der Ausgang eines Zulassungsverfahrens für Pestizide in der EU hängt stark von den Studien der Agrochemie-Konzerne ab. Der Gesuchsteller muss nachweisen, dass das jeweilige Mittel für Mensch, Tier und Umwelt unschädlich ist. In umweltrechtlicher Hinsicht wird damit das Vorsorgeprinzip umgesetzt.
Dabei schreibt das jeweilige nationale Pflanzenschutzmittelrecht (in der EU: EU- und Sonnenschutzmittelverordnung) vor, zu welchen Fragen Studien durchzuführen sind.
Die Anforderungen in der EU und in den USA sind unterschiedlich. So mussten dort zum Thema«Entwicklungsneurotoxizität» schon vor 20 Jahren Studien erstellt werden, während dies in der EU zur Zeit der Erstbewilligung von Abamectin noch nicht der Fall war.
Beschränkungen in der EU
Die Zulassung von Abamectin wurde in der EU bereits vor dem Auftauchen der nicht eingereichten Studien im Frühjahr 2023 unter strengeren Auflagen erneuert. Einerseits wurde die Anwendung auf Gewächshäuser und «walk-in tunnels» beschränkt. Andererseits wurden die Grenzwerte für die Anwendung generell auf 2.7 g/ha gesenkt.
Situation in der Schweiz
In der Schweiz sind aktuell zwei Produkte mit dem Wirkstoff Abamectin zugelassen: «Vertimec Gold» und «Vertimec Pro».] Diese werden vor allem gegen Milben und Thripse eingesetzt. Die beiden Produkte sind in der Schweiz auch für die Anwendung ausserhalb von Gewächshäusern erlaubt. Die Grenzwerte liegen dabei zum Beispiel für Freiland-Lauch bei 18 g/ha (6 x höher als der Grenzwert in der EU). In anderen Worten: In der Schweiz gelten momentan Rahmenbedingungen, welche um ein Vielfaches lascher sind als in der EU. Und selbst die aktuellen EU-Grenzwerte sind angesichts der neu entdeckten Entwicklungstoxizität zu hoch.
Gemäss Pflanzenschutzmittelstatistik werden in der Schweiz pro Jahr Pflanzenschutzmittel mit 50 kg Abamectin verkauft. Das reicht zur Behandlung von einigen tausend Hektaren. In Bezug zur gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Schweiz, auf welcher Pestizide ausgebracht werden (ca. 400’000 ha), ist das relativ wenig. Die Bedeutung von Abamectin ist für die Schweiz derzeit also gering. Trotzdem ist es unschön, dass die Schweiz bei der Beschränkung der Anwendungsmenge den Regelungen der EU wieder einmal hinterherhinkt. Weiter ist auch denkbar, dass Abamectin durch ein Verbot anderer Insektizide plötzlich eine wichtigere Rolle einnehmen könnte und in grösseren Mengen ausgebracht wird.
Der Verein ohneGift fordert, dass Abamectin in der Schweiz zum Schutz der Insekten höchstens noch in Gewächshäusern und zum Schutz der Menschen nicht mehr auf Gemüse, Beeren oder Obst ausgebracht werden darf. Zudem muss das Pflanzenschutzmittelrecht so verbessert werden, dass Gesuchsteller und Bewilligungsinhaber alle neuen oder nur ihr bekannten Informationen über problematische toxische Wirkungen unaufgefordert der Zulassungsbehörde offen legen müssen.