Einleitung
In der Bundesverwaltung liegt ein Berg von rund 800 unerledigten Bewilligungsgesuchen für Pflanzenschutzmittel (PSM). Die aufgestauten Pendenzen sind entstanden, weil zu wenig Personal vorhanden ist, um die Gesuche zeitgerecht zu behandeln, und sich das Parlament ständig weigerte mehr personelle Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Stattdessen wurde aus Kreisen der Agrarlobby eine parlamentarische Initiative (pa.Iv.) eingereicht, die darauf abzielt, dass Bewilligungsentscheide für Pflanzenschutzmittel aus EU-Ländern von der Schweiz prüfungslos übernommen werden. Ist ein Schelm, wer Böses dabei denkt? Die pa.Iv. fand in beiden Räten vorläufige Unterstützung[1].
Mit der Totalrevision der Pflanzenschutzmittelverordnung (PSMV) soll die erwähnte pa.Iv. umgesetzt werden. Dazu soll die sogenannte «vereinfachte Zulassung» für Pflanzenschutzmittel eingeführt werden, bei der zeitsparend auf eine Umwelt- und Gesundheitsprüfung verzichtet wird. Die problematischen Folgen dieser Revision hat ohneGift in einem Hintergrund-Beitrag und einem Beitrag zur Bedeutung von Bestäuberinsekten für das Ökosystem und für die Menschen beleuchtet.
Besorgniserregender Rückgang der Bestäuberinsekten
In den letzten Jahrzehnten wurde ein starker Rückgang der Bestäuberinsekten festgestellt[2][3], ExpertInnen sprechen von einer «Bestäubungskrise».
Der Verein ohneGift fordert:
Nichtzielarten wie Amphibien, aquatische Pilze, Wildbienen und Bestäuberinsekten müssen bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln berücksichtigt werden.
Fragwürdige Zuständigkeiten
Das heutige Zulassungsverfahren in der Schweiz orientiert sich grundsätzlich an den Vorschriften der EU.[4] Es gilt die sogenannte «Beweislastumkehr»: Nicht die Zulassungsbehörde muss beweisen, dass der Stoff gefährlich ist, sondern der Gesuchsteller muss mit eigenen Studien beweisen, dass dieser ungefährlich ist. Das an und für sich gute Prinzip der Beweislastumkehr hat allerdings nur beschränkten Nutzen, weil – vom Gesetzgeber gebilligt – nur ein Teil der tatsächlichen Risiken für die Natur geprüft werden muss.
Nichtzielarten sind Organismen, welche nicht das Ziel des Pestizid-Einsatzes sind, durch den Wirkstoff aber trotzdem betroffen und geschädigt werden können.
In der Schweiz ist seit 2022 das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) für die Zulassung Pflanzenschutzmitteln zuständig. Vorher lag diese Kompetenz beim Bundesamt für Landwirtschaft (BLW). Eine vom Bund beauftragte Studie der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft KMPG von 2019[5] stellte jedoch Governance-Mängel beim Zulassungsverfahren fest, insbesondere einen Zielkonflikt des BLW: Das BLW war gleichzeitig für die Bewilligung von Pestiziden in der Schweiz und die Förderung der landwirtschaftlichen Produktion zuständig. Ein klarer Interessenkonflikt, da mit giftigen Pestiziden zwar Unkraut, Schadinsekten und Pilzkrankheiten leichter bekämpft werden können, gleichzeitig aber mehr Schäden an der Natur und am Ökosystem entstehen. Deshalb wurde die Zuständigkeit per 1. Januar 2022 vom BLW auf das BLV übertragen.
Zulassungsverfahren in der EU und der Schweiz
Die Zulassungsverfahren und -kriterien für Pflanzenschutzmittel und ihre Wirkstoffe sind in Europa weitgehend vereinheitlicht. Zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) gibt es kein Pflanzenschutzmittel-Abkommen und auch keine gegenseitige Anerkennung. Die aktuell gültige PSMV verweist jedoch in fast allen Abschnitten direkt auf das EU-Recht, teilweise sogar wörtlich.
Revision der PSMV bringt keine Verbesserung, sondern vergrössert das Risiko
Was wird beim Zulassungsverfahren geprüft? Auf der Website des Bundes steht: «Sie [PSM] dürfen nur dann zugelassen werden, wenn sie keine unannehmbaren Nebenwirkungen auf Mensch, Tier und Umwelt haben».[6] Konkret sind diese Nebenwirkungen in Art. 4 und im Anhang der PSMV geregelt.[7] Die Folgen für die Umwelt, die sogenannt «ökotoxikologischen Risiken», werden (ebenfalls seit 2022) vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) geprüft. Allerdings mit einer wichtigen Ausnahme: Das Risiko für Nutzinsekten und Spinnen innerhalb der mit PSM behandelten Kulturen, wo die Gefährdung und der Handlungsbedarf offensichtlich am Grössten sind, darf weiterhin vom BLW geprüft werden. Dazu kommt, dass die Toxizität nur an sehr wenigen Arten von Säugetieren, Vögeln, Nutzarthropoden (beispielsweise Raubmilbe, Sieben-Punkt-Marienkäfer), Wasserorganismen und Honigbienen getestet wird; konkret bloss für zwei bis maximal 10 Arten pro Artengruppe.
Überhaupt nicht geprüft wird die Wirkung auf:
- tausende von weiteren Nichtzielarten
- andere Bestäuber als die Honigbienen, beispielsweise Wildbienen (vgl. ohneGift-Beitrag), Schmetterlinge, Schwebfliegen, Käfer, Wespen
- Ameisen
- Amphibien
- Reptilien
- Aquatische Pilze (das «Verdauungssystem der Gewässer»[8])
All diese Artengruppen und Arten sind ökosystemrelevant und die Bestäuberinsekten sind sogar unmittelbar systemrelevant für die Landwirtschaft. Trotzdem sind heute mindestens
50 Prozent gefährdet oder teils bereits ausgestorben. Bei den Amphibien stehen etwa 79% der Arten auf der Roten Liste des BAFU (2023)[9]. Eine riesige Zahl von wissenschaftlichen Arbeiten auf der ganzen Welt weist darauf hin, dass Pestizide eine wichtige Gefährdungsursache für die obgenannten Nichtzielarten bilden.
Zwar steht in der PSMV, dass die Auswirkungen auf Nichtzielarten berücksichtigt werden müssen, jedoch nur «soweit es von der EFSA [Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit][10] anerkannte wissenschaftliche Methoden zur Bewertung solcher Effekte gibt» (PSMV Artikel 4, Abs. 5 Bst. e). Da es für die genannten Artengruppen aber keine solchen Methoden gibt, fühlen sich weder BLV, noch BAFU und BLW bemüssigt, ihre Gefährdung im Zulassungsverfahren zu prüfen.
Aus diesen Gründen widerspricht schon das heutige Vorgehen bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln der Bundesverfassung; in Artikel 78 Abs. 4 steht: „Er [der Bund] erlässt Vorschriften zum Schutz der Tier- und Pflanzenwelt und zur Erhaltung ihrer Lebensräume in der natürlichen Vielfalt. Er schützt bedrohte Arten vor Ausrottung.“
Die geplante PSMV-Totalrevision ändert an diesen Missständen nichts. Die Vorlage bringt keinerlei Verbesserungen für die Biodiversität und sie gefährdete die Landwirtschaft, weil mit der massenhaften prüfungslosen Zulassung von neuen EU-Pestiziden die systemrelevanten Bestäuberinsekten noch mehr in Bedrängnis gebracht werden (vgl. ohneGift-Beitrag).
Fazit
Der Verein ohneGift unterstützt zwar, dass der Berg von 800 unerledigten Gesuchen für Pflanzenschutzmittel rascher abgebaut wird, denn dadurch können möglicherweise ältere schädlichere Pestizide durch umwelt- und gesundheitsschonende Alternativen ersetzt werden. Allerdings darf die Effizienzsteigerung nicht zulasten der Natur und menschlichen Gesundheit gehen, wie es aufgrund der aktuellen Vorlage zur Totalrevision der PSMV zu befürchten ist. Vielmehr ist für die raschere Erledigung von Gesuchen der Personalbestand in der Bundesverwaltung aufzustocken und die Gefährdungsbeurteilung muss auf die bislang nicht behandelten Artengruppen, insbesondere die Bestäuberinsekten, ausgedehnt werden. Dies darf sich die Schweiz als eines der reichsten Länder der Erde leisten.
[1] Zuletzt im Ständerat am 27. Februar 2024.
[2] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0048969719300166
[3] https://www.researchgate.net/profile/Stephane-Kluser/publication/239903454_Global_Pollinator_Decline_A_Literature_Review/links/56261b5308aeabddac92a2c6/Global-Pollinator-Decline-A-Literature-Review.pdf
[4] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A32008R1272
[5] https://www.anmeldestelle.admin.ch/dam/chem/de/dokumente/bericht-evaluation-zulassungsverfahren-von-pflanzenschutzmitteln.pdf.download.pdf/bericht-evaluation-zulassungsverfahren-von-pflanzenschutzmitteln-de.pdf
[6] https://www.blv.admin.ch/blv/de/home/zulassung-pflanzenschutzmittel/zulassung-und-gezielte-ueberpruefung/zulassungsverfahren.html
[7] https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2010/340/de
[8] https://www.igb-berlin.de/news/artenschutz-fuer-pilze
[9] https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/biodiversitaet/publikationen-studien/publikationen/rote-liste-der-gefaehrdeten-arten-der-schweiz–amphibien.html
[10] EFSA ist die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (https://www.efsa.europa.eu/de)